Sonntag, 8. November 2015



4. Kapitel

Teil 1

Amina flieht


Sie steigt die enge Treppe zu dem kleinen Verschlag hoch, nicht mehr als das ist ihre Kammer. Dämmrig und karg wie sie ist, war sie doch ihr Zuhause, das sie jetzt verlassen muss. In ihrem Kopf wirbeln die Gedanken. Der Anblick des Herrn im Stall lässt sie nicht los. Ich muss mich jetzt konzentrieren, damit ich nichts vergesse. Alles muss schnell gehen, ich darf nicht rasten.
Sie reißt die Schürze herunter, hängt sie an den Nagel an der Wand. Mit ihrem Messer, noch von ihrer Mutter, schneidet sie ihr langes dunkles Haar bis über die Ohren ab. Die Büschel wird sie später unterwegs vergraben. Niemandem soll ihr Haar in die Hände fallen und damit die Möglichkeit geben, einen Fluch über sie zu bringen.  Sie wickelt ein Stück Stoff fest über Brust und Rücken und befestigt es mit der bronzenen Brosche ihrer Mutter, die einer Fibel ähnelt. Über die braune Bauernbluse zieht sie eine graue Filzweste. Den Rock tauscht sie mit der schwarzen Hose, mit der sie herkam. Die Strümpfe rollt sie über ihre schmalen Füße und schlanken Beine. Ihre Stiefel warten im Spind, sie schleudert die plumpen verhassten Holzschuhe von sich, die sind für Bauern, nicht für sie.  Die Stiefel sind gerade richtig für den langen Weg, den sie vor sich hat. Sie holt alles aus dem Spind, was sie besitzt, nimmt den braunen Ledersack, die dunkelrote Kappe des Vaters, eine graue Bluse, ein Unterkleid und zwei Bruchen*.  In einem Leinensäckchen stecken drei Silbergulden und vier Schillinge, sowie die kleine goldene  Hand der Fatima, die sie von ihrer Mutter bekommen hat. Es ist eine fein ziselierte Arbeit, ein wunderbares und mit Erinnerungen besetztes Schmuckstück. Es hat sie bis jetzt beschützt und wird es auch weiter tun. Sie küsst das kleine Amulett und steckt es tief unten in den Sack. Ihre schöne Mutter. Das kalte Klima in der Nordtürkei hat sie mit der Lungenentzündung zugrunde gerichtet, sie konnte nicht gerettet werden. Selbst ihr Vater, der die Heilkräfte der Sinti besaß, war machtlos gegen diese tückische Krankheit. Ach Mama, Mama, sende mir deine Engel, betet Amina. Nicht weinen, bloß nicht weinen, spricht sie sich wieder Mut zu. Die Mönche im Kloster werden mir nichts tun. Auch wenn überall Soldaten sind, Gustav Adolfs Truppen, ich muss es wagen, alles ist besser als der Hexenturm. Auch wenn das Kloster ausgeplündert ist, kann ich mich da vielleicht verstecken, bevor ich weiterziehe. David hat mir doch erzählt, dass noch Novizen im Kloster sind, vielleicht brauchen sie Hilfe in der Wäscherei. Das Leinensäckchen mit dem Geld hängt sie sich um und steckt es in die Brustbinde. Und obenauf in den Sack legt sie noch den Holzlöffel. Ein Löffel ist immer gut.

*Unterhosen

Amina nimmt den Ledersack und geht vorsichtig, aber schnell die Treppe hinunter. Sie macht große Schritte über die dritte und sechste Stufe, die knarren immer so. Niemand ist im Haus unterwegs. Ich muss mich beeilen. Wenn sie merken, dass ich nicht mehr da bin, werden sie nach mir suchen, denkt sie wieder. Sie werden mich als Erste verdächtigen. Oh, ich kann nicht in den Hexenturm, sie werden mich foltern, ich halte es nicht aus. Die Gedanken rasen durch ihren Kopf. Immer wieder denkt sie daran, dass sie sich von Marco trennen muss. Nur ihm, Hannah und David kann ich hier vertrauen. Sie nimmt den Weg zum Garten. Im Gartenhaus hat Marco seine Werkstatt, er schläft auch dort. Vorsichtig eilt sie hinter dem Haus entlang, bis sie die Gartenpforte erreicht. Zum Glück wurde sie kürzlich geölt, sie quietscht nicht, als sie sie aufdrückt. Sie schleicht sich mit dem Rücken an der Hecke entlang, klopft an die Tür mit dem verabredeten Zeichen, einmal, dann Pause, dann zweimal. Marco öffnet die Tür, er ist immer früh wach. Er hält einen Pinsel mit roter Farbe in der Hand. Seine graue Hose hat Farbflecken, sein blaues besticktes Hemd auch. Seine zusammengebundenen dunklen Haare glänzen. Als er Amina sieht, strahlen seine Augen, er legt den Pinsel auf die Palette, um sie zu umarmen. Er malt an einem Sonnenaufgang, dem Bild auf seiner Staffelei.




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