Sonntag, 18. Januar 2015



2. Kapitel


Hörstein 1632, im Juni

 „Gütige Mutter Maria, Gebenedeite, steh mir bei, mein Schicksal zu ertragen. Beschütze meine unschuldige Tochter Anna, überlass uns nicht dem Bösen, fülle wieder Liebe in das Herz meines Gatten Arnulf, leite ihn zu mir. Trotz allem, was er anrichtet, ist er mein Gatte, beschütze mein Herz vor dem Übel. Ich nehme meine Zuflucht zu dir, Mutter Jesu Christi und Jungfrau der Jungfrauen. Amen.“
Sie legt ihre Stirn auf die Rückenlehne der vorderen Bank. Ihr Haar hat sich aus dem Knoten gelöst, lange Strähnen hängen über ihren gebeugten Rücken. Sie ist in ihr Gebet vertieft. Kühl fühlt sich das Holz an. Leer ist die kleine Waldkapelle an diesem frühen Morgen. Sie liebt die Stille, das Singen der Vögel draußen. Hier fühlt sie sich geborgen, hier ist ihr Zufluchtsort. Sie hört nicht die Schritte hinter ihr. Sie zuckt zusammen, als sie plötzlich den harten Griff an ihrer Schulter spürt.
„So hab ich dich gefunden, zur Kapelle läufst du mir davon“, hört sie die raue Stimme ihres Gatten.
„Im Bett will ich dich finden und nicht hier im Wald, und dann beschwerst du dich, dass ich nicht genug bei dir liege, Weib!“
Kaum bringt sie die Worte heraus, sie zittert.
„Bitte versündige dich nicht, sprich nicht davon an diesem heiligen Ort, ersuch ich dich!“, stößt sie hervor, zieht den Umhang fester um die mageren Schultern.
„Papperlapapp, heiliger Ort, unser Ehegemach ist unser heiliger Ort“, bricht er in ein lautes heiseres Lachen aus.
„Komm, Weib.“ Er reißt sie hoch, presst sie an sich, greift an ihre Brüste,
„Du tust mir weh“, stöhnt sie.
 „Ach was, gleich tut’s nicht mehr weh.“
Er zwingt sie auf die Bank, stupst sie zurück, schiebt schnell ihren Rock hoch, öffnet seine Hose und kommt schon. Er stößt sie hart, sie fühlt sein Zittern, hört sein Stöhnen, krallt sich an seinem Rücken fest, um nicht von der schmalen Bank zu fallen. 
„Ob du’s willst oder nicht, du bist mein Weib und hast mir zu Willen zu sein, dass endlich der Sohn kommt, den wir brauchen, da hast du’s, das willst du doch, es ist mein Recht, Weib, beschwer dich nicht, die Pfaffen treiben’s noch viel mehr und überall.“
Er lässt sie los, bindet seine Hose zu, wendet sich ab, verlässt die Kapelle.
Sie bleibt zurück, gedemütigt. Meine Zuflucht, von ihm geschändet, ich bin ihm ausgeliefert, was kann ich denn tun gegen diesen Mann? Sie weint und schluchzt. Wo kann ich hin, ungestört mit meinem Gott sprechen? Sogar in die Kapelle folgt er mir, um mich zu erschrecken. Wie in Trance richtet sie sich auf, richtet ihre Kleidung, fährt sich durchs Haar, steht dann auf, geht langsam den Seitengang entlang, aus der Kapelle, durch den Wald den Weg zurück zum Haus.
Wenn ich doch endlich einen Sohn empfangen könnte, vielleicht wird er sich dann ändern. Ich werde Martha fragen nach dem Bilsenkraut. Es kann mich betäuben, sodass ich die Schmerzen nicht spüre, wenn er so grob ist, so rücksichtslos. Wieder weint sie. Was ist bloß aus mir geworden? Ein willenloses Geschöpf, oh, wäre ich doch ins Kloster gegangen, als ich noch jung war.
Ich werde Martha zu mir rufen lassen, jetzt gleich.

 „Gnädige Frau haben mich gerufen?“ 
Martha macht einen Knicks und bleibt demütig vor Maria von Eden stehen. Ihre Schwangerschaft ist nicht mehr verborgen, unter der Schürze ist die sanfte Wölbung zu sehen. Sie ist ein wenig kurzatmig nach dem Weg vom Buchenhof hierher. Maria blickt prüfend in Marthas blasses Gesicht, leichter Schweiß steht auf ihrer Oberlippe. Ihre Kleidung ist so sauber, ihre Schürze glatt und rein, ihr schönes dunkles Haar geordnet und mit einem Tuch zusammengehalten.  Obwohl Maria sich gewöhnlich kaum Gedanken macht um ihre Bediensteten oder diejenigen, die in ihrer Nähe wohnen und arbeiten, nimmt sie doch wahr, wie angestrengt Martha aussieht und so fordert sie sie auf mit den Worten:
„Setz dich, Martha!“
„Danke, gnädige Frau.“
Martha sinkt schwer auf den zierlichen Stuhl. Immer ist sie so fleißig und ihrem Mann Bastian treu ergeben. Schwer trägt sie mit an Bastians Schicksal, ohne seinen älteren Bruder und dessen Unterstützung leben und arbeiten zu müssen. Sie war ja noch ein Kind, als das Unglück über Bastians und Lottes Familie kam.
Sie sitzen im Vorzimmer neben dem Salon, die blassblaue Seidentapete schimmert im Licht des Vormittags. Maria hat sich etwas erholt, Martha schaut sie prüfend an. Sie sieht nicht gut aus, meine Herrin, heute mehr als sonst. Sie ist so blass, ihre Hände fahren unruhig über ihren Rock.
„Ich brauche wieder von deinem Schlehenwein, den du so gut zubereiten kannst, mein Vorrat ist aufgebraucht. Hast du noch welchen?“
„Ja, gnädige Frau, es sind noch zehn Flaschen davon im Keller. Ist er wieder für Euren Gatten?“
„Das geht dich nichts an. Wir trinken ihn gern, auch unserem Besuch bieten wir ihn immer an. Bring mir die zehn Flaschen und setze neuen an.“
„Sehr wohl, gnädige Frau.“
„Ich werde Dolf schicken. Er kann die Flaschen abholen. Und, Martha, gib mir auch einen Tiegel mit Lavendel. Ich muss den Tee trinken. Ich hoffe, er schlägt bald an. Du weißt, was ich mir so sehr wünsche.“
„Ja, gnädige Frau, wie gern würde ich euer Kind säugen, wenn es endlich kommen könnte.“
„Ich weiß, Martha, ich weiß, ich sehne mich danach. Der Herr ist so ungeduldig.“
Mitleidig schaut Martha die Herrin an und bekreuzigt sich heimlich. Die gute Herrin, sie hat keine Ahnung.
„Und dann noch, Martha“, Maria beugt sich vor und flüstert, „hast du noch vom Bilsenkraut?“
„Gnädige Frau …“ Martha reißt erschrocken die Augen auf.
„Ich weiß, du kennst dich aus, Martha, ich brauche es, du hast bestimmt einen Vorrat, gib mir etwas“.
„Gnädige Frau, es ist gefährlich, man darf nicht zu viel nehmen.“
„Ich weiß es, Kräutergrete hat mich eingewiesen. Ich bin eine gute Schülerin, glaub mir, bring es mir, morgen früh, und nur du selbst.“
Martha macht einen Knicks.
„Geh jetzt, Martha.“
„Sehr wohl, gnädige Frau.“
Tief in Gedanken geht Martha zurück. Der Wald ist so licht, mit all dem frischen Grün, so friedlich scheint er. Warum will die Herrin wohl das Bilsenkraut? Es ist so gefährlich. Kräutergrete hat mich immer gewarnt, es bereitet wunderbare Gefühle, man scheint zu fliegen, aber nur etwas zu viel, dann fliegt man zu weit, auf Nimmerwiederkehr.

Ruhig ist das Haus, als Martha in die Küche tritt. Bastian arbeitet auf dem Acker. Sie geht in den Keller und sucht nach dem Schlehenwein. Da ruht er, wohl verkorkt, ihr liebevoll zubereiteter Wein. Auch die Tiegel mit Lavendel stehen auf dem Kräuterregal daneben. Da, wo sie die Heilkräuter Kamille, Salbei, Spitzwegerich und andere und die Schmalztöpfchen aufbewahrt. Ganz hinten aber, in der Ecke, verborgen hinter dem Stapel grober Säcke, da stehen kleine Tiegel mit Bilsenkraut, Schlangenwurz, Stechapfel. Von diesen Vorräten weiß nicht mal der Bastian. Sie nimmt zwei Flaschen von dem Schlehenwein, trägt sie nach oben, fünfmal geht sie in den Keller, bis zehn Flaschen auf dem Küchentisch stehen.
Wie gern würde ich der Herrin helfen. Sie ist eine gute Herrin, mit diesem Teufel von Gatten geschlagen. Wie ergeben sie ihm ist, obwohl er sie so quält. Sie hat ja keine Wahl. Sie ist ihm ausgeliefert, so wie alle Frauen hier in der Gegend. Er ist unersättlich, niemand kann ihm Einhalt gebieten. Jeder weiß Bescheid und schweigt.
Sie lässt sich auf die Ofenbank fallen und legt die Hand auf ihren Bauch. Wenn es doch bald so weit wäre, es ist mein Kind, nur ich kenne es, auch wenn sich Bastian so sehr darauf freut. Er kann es kaum erwarten. Wie das Kind wohl aussehen wird.  

Gänsehaut überzieht ihre Arme und ihren Rücken. Sie steht auf und setzt den Kessel aufs Feuer. Ihr ist so kalt. Noch ist es nicht warm, obwohl es schon Juni ist. 

Die Schafskälte und dann wird es bestimmt besser. Nur die Geburt, davor habe ich solche Angst. Vielleicht muss ich dann sterben, wie meine Mutter bei meiner Geburt.
Seitdem die Kräutergrete gestorben ist, wohnt keine kundige Geburtshelferin mehr in der Nähe. Nur die alte Hannah, die im Herrenhaus in der Küche dient, kennt sich aus damit, ein Kind zur Welt zu bringen. Alle anderen geburtskundigen Frauen haben sie zu Tode gebracht, in Hörstein in den Hexenturm gesperrt, gerichtet, dann verbrannt oder ertränkt. So viele waren es, dass im Hörsteiner Turm kein Platz mehr war. Sie bekreuzigt sich und spricht ein Gebet für ihre Seelen. Keine ist mehr sicher gewesen vor den Verfolgern, besonders vor dem Landbereiter und Centgrafen Paul Eyles. 
Martha schaudert, während sie an all die unschuldigen Frauen und schwelenden Scheiterhaufen im Land denkt, die sie selbst gesehen hat. Wenn man es bedenkt, hat die Kräutergrete noch Glück gehabt, dass sie eines natürlichen Todes gestorben ist, in dem eisigen Winter, an Lungenentzündung.  Und nicht als Hexe beschuldigt wurde in diesen bösen Zeiten. 

Und was ist mit mir? Niemand darf wissen, was ich weiß, und dass ich mich auskenne mit den Pflanzen. Jederzeit kann jemand kommen, mich beschuldigen und holen. 

Das Wasser beginnt zu brodeln. Sie steht auf und wirft eine Handvoll Himbeerblättertee in den Krug, gießt das heiße Wasser auf. 
Das wird mir guttun, hoffentlich werden die Wehen mich nicht so quälen. Draußen hört sie Hufgetrappel, Bastian ist zurück. Schnell richtet sie die Brotzeit für ihn, ein Stück Käse auf dem Holzteller, einen aufgeschnittenen Rettich, frisches braunes Brot, das sie gestern gebacken hat.

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